Im Osten viel Neues
Im Sommer nach Sibirien? Im Ernst?!? – so oder so ähnlich fielen die meisten Reaktionen aus, wenn wir von den Vorbereitungen zu unserer Pressereise erzählen. Denn obwohl die riesigen sibirischen Waldflächen wichtig für unser Klima und die Sauerstoffversorgung sind und allein die Region Tyumen doppelt so groß wie Frankreich ist, wissen die meisten von uns sehr wenig darüber. Dass ihr kontinentales Klima für kalte Winter und heiße Sommer sorgt – wir also kurze Hosen und T-Shirts einpacken müssen – war uns wenigstens klar. Was wir alles trotzdem noch nicht über Tyumen wussten, erfuhren wir dann auf unserer sechstägigen Reise.Sie begann mit unserem Flug nach Moskau, wo unser Flieger morgens um drei sicher im Morgenrot landete. Denn in Russland sind die Sommernächte noch kürzer als bei uns. Wir rieben uns erst vor Müdigkeit die Augen – und danach vor Bewunderung: Denn der Moskauer Flughafen Sheremetjevo ist der physische Beweis dafür, dass man einen Flughafen in überschaubaren Zeiträumen nicht nur neu bauen, sondern auch betreiben kann. Ja, und damit noch nicht genug: In Russland scheint beides sogar gleichzeitig zu funktionieren. Jetzt nur nicht neidisch werden, Berlin!
Unser eigentliches Reiseziel, die von Moskau etwa 1700 km Luftlinie entfernte Stadt Tyumen, erreichten wir dann gegen Mittag (Ortszeit). An Schlaf war auch dann nicht zu denken: Das Programm der Reise war prall, eng getaktet und gespickt mit Highlights, von denen wir keines verpassen wollten. Nach dem Besuch eines traditionell-russischen Badehauses, einer Führung durch eine Ölförderstätte und einer faszinierenden Bootstour über den Fluss Tura, zog es unsere Reisegruppe weiter hinaus aufs Land: Wir erkundeten die Handwerkskunst und sibirischen Traditionen in kleinen Städtchen wie Jalutorowsk und Pokrovskoe, und verbrachten drei hochinteressante Tage in der ersten Stadt Sibiriens: Tobolsk.
Dieses architektonische Juwel nennen die Russen auch das „Tor zu Asien“ oder den „Vater der sibirischen Städte“. Hier besuchten wir neben der Filmkulisse eines russischen Blockbusters auch ein hochkarätiges Open-Air-Konzert, ein Mittelalter-Festival und selbstverständlich den „Schatz Sibiriens“, den Tobolsker Kreml. Die ehemalige Zitadelle aus dem späten 17. Jahrhundert beherbergt nicht nur viele Werkstätten, ein gutes Restaurant und sehenswerte Museen. In ihren Mauern steht auch der älteste steinerne Sakralbau Sibiriens, die von goldenen, in der Sonne blitzenden Kuppeln gekrönte Sophienkathedrale.
Auf unserer intensiven Reise begegneten uns nicht nur fast unberührte Natur in unglaublicher Weitläufigkeit, die berühmte russische Herzlichkeit und Gastfreundschaft und viele ausgesprochen nette, lustige und bemerkenswerte Sibiriaken. Wir wandelten auch auf den Spuren der vielen Menschen, die über Jahrhunderte hinweg nach Sibirien verbannt wurden – bis hin zur Zarenfamilie, die vor ihrer Erschießung in Jekaterinburg acht Monate in Tobolsk gelebt hatte. Wir schlichen ehrfürchtig durch ihr bis heute gut erhaltenes Wohnhaus, verweilten im Haus des Mönchs Grigorij Rasputin und tauchten ein in das einstmals strengste Gefängnis Sibiriens, den Zwinger von Tobolsk. Jedes dieser Gebäude und die Schicksale, die sich mit ihnen verbinden, ließen unglaublich engagierte Menschen mit ihrer Begeisterung und Emotion für uns lebendig werden: Die Betreiber, Kuratoren und Führer der oftmals privat finanzierten Museen.
Als wir – randvoll mit Eindrücken und wundervollen Erinnerungen – schließlich wieder im Flieger nach Moskau saßen, blieben viele unserer Gedanken in Tyumen und Tobolsk zurück. Man sagt, beim Fliegen reise der Körper schneller als die Seele, die für die Veränderung mehr Zeit brauche. Selten haben wir das intensiver gespürt als nach dieser Reise. Dabei hätten wir alle gerne noch viel mehr gesehen, uns länger unterhalten – und noch viel länger mit unseren Gastgebern gefeiert. Dafür kann es nur eine Lösung geben: Die nächste Reise ist bereits in Planung. Und diesmal nehmen wir uns Tyumen im Winter vor!
Foto: Mirko Milovanovich